Alphacrash

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alphacrashAlphacrash
– Das Unglück einer starken Frau ist ein schwacher Mann
Maternus Millett
ISBN 9783862540051, AAVAA, Taschenbuch, 315 Seiten, € 9,95

alphacrashEsther, ein ebenso taffes wie empfindsames „Alphamädchen“, beichtet die Spur der Verwüstung, die sie auf dem Weg zu sich selbst als Frau hinterlässt.
Nach Dutzenden aussortierten Versagern hatte Esther sich mit ihrem Chefredakteur Herbert eingelassen, woraufhin seine Gattin Kathrin ihm das Leben zur Hölle macht. Herbert fleht Esther um Beistand an, doch sie ekelt sich vor seiner Schwäche. Er fährt sich zu Tode, und Kathrin legt Esthers Karriere in Trümmer. Esther will ihr Gewissen entlasten und entdeckt Herberts Verstrickung in dubiose Bankgeschäfte. Dabei trifft sie auf Victor, einen koksenden Bankierssohn, der Arbeit verachtet und Esther mit einer legal „selbst gemachten“ Million beglücken will. Mit fatalen Folgen …
Auf dem Weg zum ganz anderen Liebesglück entdeckt Esther erstaunliche Bankgeheimnisse und die Parallelen zwischen dem Reich der Erotik und des Geldes. Bissig und nachdenklich zugleich seziert sie die modernen Glücksversprechen von Geld, Sex und Karriere – und will endlich wissen, wie sie eigentlich Frau sein kann und will …

Sie werden mich für verrückt halten.
Hier sitze ich, ein ehemaliges Mitglied der medialen Elite, eine Kosmopolitin, am Arsch der Welt, halte mir den Bauch, in dem es tritt und boxt und genieße die Gesellschaft eines Rentners und eines Dauerarbeitslosen.
Vielleicht können Sie mich nach der Lektüre dieser Geschichte zumindest ein wenig verstehen, aber wahrscheinlich werden Sie mich nicht besonders mögen. Dieses Risiko gehe ich ein.
Bis zu meiner schicksalhaften Begegnung mit Herberts Chef hatte ich in den letzten zweieinhalb Jahren mit etwa hundert Männern ein Rendezvous, davon im letzten allein mit dreiundsechzig (einschließlich jener, mit denen ich beim Speeddating ein „Date“ von jeweils sieben Minuten hatte, sieben pro Sitzung für neunundzwanzig Euro). Von diesen dreiundsechzig Kandidaten habe ich einundfünfzig spätestens nach dem zweiten Treffen aussortiert (ich fand sie nicht attraktiv, weil sie – ich bin jetzt ehrlich – meist sozial oder einkommensmäßig, manchmal auch physisch oder intellektuell nicht wenigstens auf meiner Augenhöhe waren). Mit fünfzehn bin ich im Bett gelandet, mit zwölf davon nur einmal, neun davon waren (zumindest bei mir) impotent. Von den sieben, mit denen ich länger als einen Monat zu tun hatte, stellte sich bei fünf heraus, dass sie gebunden waren, drei davon verheiratet.
Nur einem Einzigen von diesen hundert konnte ich das Prädikat „Alpha-Plus“ zuerkennen. Dieses Gütesiegel bekam ein Mann, der zuverlässig Herr der Lage ist, ein Fels in der Brandung, ein menschliches Gravitationszentrum, ein soziales Zentralgestirn, ein Mann, der mich beruflich wie auch privat voranbrachte.
Ein bisschen zu ihm aufschauen wollte ich schon. Ich nannte das das „Zehn-Prozent-Ideal“. Männer sind statistisch betrachtet im Schnitt zehn Prozent größer als Frauen. Ich bin knapp einen Meter siebzig groß, knapp einsneunzig sollte er also mindestens messen. Um mindestens zehn Prozent sollte er auch mein Einkommen und meine Position übertreffen.
Ein solcher Alpha-Plus-Mann war mein Chefredakteur Herbert Westerborn. Er war zwar kaum größer als ich und überhaupt nicht hübsch, aber er machte das in anderen Bereichen mehr als wett.
Wenn Herbert einen Raum betrat, so füllte er ihn sozusagen restlos aus. Gespräche erstarben, und auch jene, die ihn nicht hatten kommen sehen, drehten sich unwillkürlich nach ihm um. In Sitzungen folgte dann Schweigen, manchmal minutenlang. Erst nachdem er sich behaglich niedergelassen und geräuspert hatte, lösten sich die Anwesenden aus ihrer Habacht-Haltung. Dann legte er sein Breitwandgrinsen auf und strahlte in die Runde. Immer wieder fragten wir Kollegen uns, ob dieses Raubtiergebiss wohl echt sei.
Zum ersten Mal war ich Herbert während meines Studiums der Geschichte und Soziologie in Frankfurt begegnet. Damals ließ ich ihn noch nicht an mich heran. Er war Dozent für Stochastik und lebte sein linkes Sendungsbewusstsein bei der Zeitschrift „Konkret“ aus. Später wechselte er dann zur „Tageszeitung“, brachte es bis in den Vorstand der Genossenschaft der „taz“ und war dann bei „Geld+Finanz“ und im Vorstand der Reuterbank gelandet. Ich konnte mir das eigentlich nur durch die Gunst seiner Fußballkumpels erklären. In diesem Club schanzten sich die zu Professoren, Richtern, Bankern und Abgeordneten arrivierten Altlinken gegenseitig die Jobs zu und ließen die alten Zeiten hochleben. Herberts Karriere war nicht allzu erstaunlich in einem Land, in dem es ein ehemaliger Steinewerfer zum Außenminister und Vizekanzler gebracht hatte.
Ein Vierteljahr nach meinem Einstieg als Redakteurin bei „Geld+Finanz“ (auch durch Herberts Fürsprache, ich gebe es zu) war ich der Ansicht, dass es wohl nicht nötig sei, jedes Mal die gesamten drei bis vier Stunden einer Themenkonferenz von Anfang bis Ende abzusitzen. Ich hatte noch nicht begriffen, dass es da so etwas wie eine Rangordnung gab: Die wichtigeren Kollegen durften ihr Thema zuerst vortragen und sich den Rest sparen. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch „die Neue“ und mein Platz war immer der letzte gewesen.
Als ich den Sitzungsraum dann zwei Stunden nach dem offiziellen Beginn betrat, war niemand mehr da. Ich kehrte zu meinem Büro zurück und als ich an Kathrins Zimmer vorbeikam, sah sie mich durch den Türspalt, griff meinen Arm und zerrte mich zu sich hinein. Sie schloss die Tür und fauchte:
„Bist du wahnsinnig? Weil du nicht da warst, dürfen wir alle morgen noch mal antreten. Herbert erwartet, dass von Beginn an alle anwesend sind und du …“
Das nächste Mal war ich pünktlich. Und wie immer als Letzte dran. Ein Kollege steckte mir nach der Sitzung, dass in einem Fall von Unbotmäßigkeit wie meiner Schwänzerei Herbert um eine Audienz zu bitten sei.
Er war in den folgenden Tagen für mich nicht zu sprechen. Als ich letztlich doch vor seinem Schreibtisch strammstand, stand er von seinem Chefsessel auf, ging einmal um mich herum und scannte meinen herausgestreckten Hintern ab. Ich fühlte mich erfasst und vermessen und erschauderte in erregter Peinlichkeit.
Und dann raunte er mir ins Ohr: „Frau Wiesengrund, ich glaube, wir sollten uns einmal ausführlich unterhalten. Privat.“
Bei einem x-Beliebigen wäre ich darauf natürlich niemals eingegangen.
Es folgte unser erstes Treffen im „Kleinen Löwen“. Das ist so ein Gasthaus, in dem man sich stundenweise Zimmer mieten kann.
Ich kam gern. Danach war ich in der Reihenfolge der Vortragenden auf den ersten Platz aufgerückt.
Das ist es, was ich mit „Alpha-Plus“ meine.
Doch dummerweise war Herbert mit ebendieser Kathrin, meiner Ressortleiterin verheiratet.
Ein wenig verkommen war ich ja schon. Wahrscheinlich halten Sie mich zudem für eine Lügnerin, wenn ich Ihnen erzähle, dass dieser „Alpha-Plus-Mann“ sich fortan von seiner Gattin verdreschen ließ.
Bei der vorletzten Themenkonferenz meiner Karriere stutzte ich, als ich in Herberts Gesicht schaute. Und dann sah ich, was anders war als sonst: Kein Veilchen. Keine aufgeplatzte Lippe. „Herbert ist mal wieder gestürzt“, hatten wir Kollegen seinerzeit hinter seinem Rücken gefrotzelt, „Herbert hat sich gestoßen.“
Die anderen Kollegen waren schon nach Hause gegangen. Mir fiel auf, dass die Versicherungen von mal zu mal immer später an die Reihe gekommen waren und die Versicherungen, das war ich. Ich war wieder die Letzte – wie zu Beginn meiner Karriere. Auch das hatte ich Kathrins Einfluss zu verdanken, wie ich später erfuhr.
Wir saßen um einen ovalen Tisch herum, mir gegenüber Herbert, rechts von ihm Kathrin, neben ihr mein besonderer Liebling Striezel, der Verifikator. Wir Kollegen duzten einander. Striezel hingegen siezte und wurde gesiezt.
Herbert war für seine Breite ein bisschen zu kurz geraten, Striezel hingegen zu lang. Woran musste ich denken, wenn ich den etwas dicklichen Herbert mit den buschigen Koteletten und Augenbrauen (sein Haupthaar schien sich dorthin zu verlagern) und den hageren Striezel mit dem immer abstehenden Haarschopf beieinander sah? Genau: Max und Moritz. Die beiden hatten als kleine Jungs bestimmt so ausgesehen wie die Bengel aus Wilhelm Buschs Urcomic. Damals fand ich das noch lustig.
Dazwischen Kathrin. Sie erinnerte mich stark an meine Grundschullehrerin an der deutschen Schule in Buenos Aires. Beide hatten schwer zu bändigende Haare, und Kathrins würden irgendwann einmal so grau sein wie die jener Frau Hörr damals (Die Argentinier sprechen diesen Namen wie „Señora Err-or“, Frau Irrtum, oder wie „Señora Horr-or“ aus. Was beides nicht ganz unzutreffend war – auch in Bezug auf Kathrin.). Auch darüber lache ich heute nicht mehr.
Striezel und Kathrin: Irgendwie passten sie zusammen. Beide waren hager und groß und hatten etwas Grausames an sich. Etwas Überkorrektes, das ich ihnen nicht abkaufte.
Kathrin fixierte mich. Wie viel wusste sie? Sie kniff die Augen zusammen und wandte sich kurz zu Herbert. Er bemerkte das und schaute schnell auf den Seitenplan vor ihm auf dem Tisch. Ich zuckte zusammen und fühlte mich wie einst in der Schule, wenn ich nicht wusste, ob die Lehrerin mir während der Klassenarbeit von hinten beim Mogeln zuschaute. Nur dass mir die Lehrerin diesmal nichts konnte. Dachte ich und sah mich schon auf ihrem Platz sitzen.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Herbert, was ist los mit dir? Wer ist hier der Chef?, so wollte ich ihn fragen. Und da sah ich, dass er schwitzte. Der Schweiß nässte durch sein Hemd; Tropfen glitzerten auf seiner Stirn.
Ich erkannte meinen Chef nicht wieder. Aus dem Löwen war ein zahnloser Fall für den Tierschutzverein geworden.
Es war ein Tag im April, und dieser April war sommerlich warm. Aus der Klimaanlage an der Decke ergoss sich ein eisiger Strom in den Raum; das Öffnen der Fenster war im Sitzungsraum nicht möglich. Ich fror und sehnte den Moment herbei, an dem ich meine Fahrradklamotten überstreifen und durch den Tiergarten rauschen, den Geruch nach Fruchtbarkeit einsaugen, den Vögeln lauschen würde.
Ich schaute nach draußen. Auf der linken Seite des Reuterplatzes stand die mit braun verspiegeltem Glas eingehüllte Zentrale der Reuterbank, Herberts zweiter Arbeitsplatz. Die Fenster seien die Augen eines Hauses, sagt man. Warum tragen die dreizehn Geschosse der Reuterbank sozusagen eine verspiegelte Sonnenbrille? Ich fragte mich, ob die da drüben etwas zu verbergen haben.
Gut dreieinhalb Stunden hatte ich mir die neuesten Telefontarife und DSL-Angebote angehört, die heißen Aktientipps, die News aus der Fondsbranche und Baufinanzierungen im Vergleich. Bring es hinter dich, dachte ich, als ich an der Reihe war und trug meinen Themenkomplex vor: Die Vor- und Nachteile von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen, Tarif- und Leistungsvergleiche.
Dann der Höhepunkt: Zusatzpakete für Zahnersatz. Drei Wochen lang hatte ich den Markt durchforstet, Tabellen angelegt, versucht, das Unvergleichbare vergleichbar zu machen, Berge von Kleingedrucktem gewälzt. Striezel, der Verifikator und Stachel in meiner Seite, warf mir skeptische Blicke zu. Ich kriege dich, wollten seine Augen sagen. Ich war gespannt, ob er auch dem Paragraphenmonster Zahnersatz auf den Zahn fühlen und mir zwecks Verifikation meiner Behauptungen auf meinem Leidensweg folgen würde. Demonstrativ ließ ich eines der Aktenbündel auf den Tisch knallen, die ich hinter mir auf dem Boden gestapelt hatte. In Gedanken fragte ich ihn: Na, mein Freund, willst du dir das wirklich antun?
Ich blickte ihn entsprechend an. Doch er wich nicht aus, sondern hob langsam das Kinn, straffte seine Haltung und verschränkte die Arme. Ich schlang meine Beine und meine eisigen Schweißfüße fester ineinander.
Hätte man mich damals gefragt, ob mich das Versicherungsgeschäft überhaupt interessiert, so hätte ich geantwortet: „Selbstverständlich, schließlich ist das mein Beruf!“ Worüber ich heute lachen muss.
Endlich Sitzungsende. Beim Hinausgehen fragte ich Herbert:
„Wo sind denn deine Blessuren? Hast du laufen gelernt?“
„Sehr witzig. Hast du heute Abend Zeit, so ab sieben?“, fragte er.
„Wird schwierig“, antwortete ich. „Ich muss zum Chorsingen.“
„Und morgen?“
„Geht auch nicht. Betriebssportgruppe. Muss Rennrad fahren.“
In der letzten Zeit war Herbert besonders anhänglich geworden. Es machte mir Spaß, ihn ein bisschen zappeln zu lassen.
„Freitag?“, fragte er.
Ich schaute mich um. Kathrin war außer Hörweite. Ich zischte:
„Mensch, Herbert, da bin ich doch ab fünf bei euch zum Babysitten.“
Ja, Babysitten. Ich bin verrückt nach Kindern. Kathrin und Herbert hatten ein dreijähriges Söhnchen, Julian. Mit blonden Löckchen und großen blauen Kulleraugen. Ich bin sicher: Irgendwo in Oberbayern gibt es eine barocke katholische Kirche, in der ein Engelchen fehlt.
Ich bin ein schwerer Fall von Gluckensyndrom. Welch rührender Versuch, dem Unausweichlichen, dem Altern und dem Tod zu entkommen! Indem man sein Ego zumindest zur Hälfte dupliziert, reicht man den Schwarzen Peter ans Kind weiter, macht eine neue Runde auf, Geburt, Altern, Tod, endlos und immer wieder von vorn.
Herberts Schweißgeruch waberte mir um die Nase. Es war Angstschweiß.
Ich drehte mich noch einmal um: Kathrin und Striezel gingen nebeneinander davon. Die passen wirklich gut zusammen, dachte ich.
„Ich muss dich sprechen. Sofort und unter vier Augen“, sagte Herbert.
„Ich muss jetzt los“, antwortete ich.
„Es ist wichtig.“
„Heute nicht. Ich muss zum Chor.“
„Zum Chor!“ Er schnaubte. „Es geht auch um dich.“
Er schaute sich um. Kathrin und Striezel waren in Kathrins Büro verschwunden.
„Komm jetzt.“ Er griff mich am Oberarm und gab die Richtung vor. Das überzeugte mich. Er schob mich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Er schloss sie ab, das hatte ich noch nie beobachtet.
„Setz dich“, sagte er und ließ sich in seinen Chefsessel plumpsen, nahm sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Also, was ist? Ich habe nicht viel Zeit“, drängte ich.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, was hier los ist?“, fragte er.
„Ein paar Posten werden neu vergeben, das hatten wir doch schon besprochen“, sagte ich.
„Allerdings. Aber nicht so, wie du denkst. Wir sollten reinen Tisch machen. Ich habe hier keine Zukunft. Und du auch nicht.“
Keine Zukunft? Du auch nicht? Es hallte durch meinen Kopf. Ich spürte, wie sich die Härchen auf meiner Haut sträubten.
„Wie bitte?“, platzte ich heraus.
„Vergiss den Laden hier. Alles Affentheater. Wir bewegen uns an der Oberfläche, alles Fassade. Darunter läuft eine Sauerei, die so groß ist, dass sie keinem auffällt. Niemand schaut hin, keiner fragt nach. Und wenn jemand darüber reden würde, würde man ihm nicht glauben, ihn für verrückt erklären.“
Ich hoffte, dass er nur ein Spiel mit mir trieb. Mich veralberte, so eine Art Stressinterview mit mir machte. Doch dazu war er selber zu gestresst.
„Aber das sind doch gute Jobs hier. Du selber hast einmal gesagt, für Systemkritik sei hier kein Platz. Und ehrlich gesagt: Ich sehe das auch so. Ich habe keine Lust, nachzustochern. Ich lebe ganz gut. Und du doch auch“, argumentierte ich.
Er stand auf und lief vor dem Fenster hin und her. Im Gegenlicht fiel mir auf, dass er in der letzten Zeit eine Menge Kummerspeck angesetzt hatte. Seine Haltung war gebeugt.
Nach einer Weile sagte er: „Ich bin sozusagen das System und das System fährt gerade an die Wand. Die Knautschzone ist demnächst verbraucht. Kein Airbag. Höchste Zeit, auszusteigen.“
„Aussteigen? Was soll das heißen?“ Ich zog meinen Blazer zu und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Aussteigen. Wohin bitteschön? Ich schaute mich um. Ein Chefzimmer. Eindeutig. Lederner Chefsessel, ein ziemlich großer Schreibtisch (aus massivem Holz, nicht mit Plastikfolie), ein echtes abstraktes Ölgemälde, eine lederne Sitzgarnitur. Und natürlich Fotos von Kathrin und Julian auf dem Schreibtisch. Entweder hat er den Verstand verloren oder es ist wirklich ernst, dachte ich.
Es sah danach aus, dass da ein Problem auf mich zukam. Es fühlte sich gar nicht gut an.
Herbert setzte sich wieder und redete weiter: „Ich werde versuchen, zu retten, was zu retten ist. Aber dazu muss ich meine Jobs an den Nagel hängen.“
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte ich leise.
„Du kannst ja hier bleiben, wenn du willst. Viel Spaß dabei.“ Er lachte bitter.
Mit Kathrin und Striezel allein. Das wäre das Ende gewesen.
Ich wurde laut: „Verdammt, was geht hier vor? Was ist los mit dir? Bist du noch bei Verstand?“
„Sei vernünftig. Glaub mir einfach. Ich kann dir jetzt nicht mehr sagen, außer dass ich dich brauche. Ich schaffe es sonst nicht“, bettelte er.
Mir wurde plötzlich heiß und mir dämmerte, dass ich keine andere Wahl hatte, als dort zu sein, wo er war. Wir waren längst Komplizen. Er brauche mich, sagte er. Das gehörte sich nicht für einen Chef. Er wurde schwach und das machte mir Angst. Ein seltsames Flattern stieg in mir hoch. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr aufstehen zu können, so weich waren meine Knie. Mein Respekt für ihn hatte ohnehin schon gelitten, so wie er litt. Aber auch ich brauchte ihn. Nur: Er hatte nicht mehr vor, was ich vorhatte. Er kündigte unsere Vereinbarung, drückte mir neue Bedingungen auf.
Da glaubte ich, eine schlaue Idee zu haben.
„Ich helfe dir. Gemeinsam stehen wir das hier durch. Wir kriegen das hin. Warum solltest du deinen Posten räumen?“, preschte ich vor.
„Ausgeschlossen. Hier geht es für uns nicht weiter. Für mich genauso wenig wie für dich. Wir wollen die Verbraucher schützen und von der anderen Seite kommt die Vollrasur unserer Sparer und Versicherten auf uns zu. Ich bin Teil der Vollrasur – und Verbraucherschützer. Das geht nicht. Ich muss aus beidem raus und ein bisschen Guerilla spielen. Aber alleine schaffe ich das nicht. Vielleicht erinnerst du dich daran, wo wir beide herkommen.“
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. In jahrelanger Kleinarbeit hatte ich mir eine respektable Existenz zurechtgebastelt. Aus einer aufsässigen Linksradikalen war eine Versicherungsexpertin geworden, die regelmäßig im Fernsehen etwas sagen durfte. Und er? Der einst gefürchtete Revoluzzer mit der rhetorischen Peitsche war jetzt ein Finanzexperte mit vollem Terminkalender, ständig auf Reisen, überall hin eingeladen von Banken, Versicherungen, Universitäten. Das alles wollte er hinschmeißen?
Meine Schweißdrüsen nahmen die Arbeit auf. Ich sitze in einem schlechten Film, dachte ich. Alles sah so seltsam aus. Die Vögel klangen irgendwie blechern; der Verkehrslärm schmerzte mich und ich umschlang meinen Oberkörper noch fester. Unten rauchte jemand. Ein Hauch von Zigarettenqualm stieg mir in die Nase. Mir wurde schlecht.
„Es ist alles vorbereitet“, sagte Herbert.
„Vorbereitet? Was denn, bitte schön? Eine neue Karriere? Wovon soll ich leben? Was soll ich den ganzen Tag lang machen, wenn ich mit dir gehe? Wohin überhaupt? Was soll ich sagen, wenn man mich fragt, wer ich bin, was ich mache? Und du? Hast du darüber schon nachgedacht? Was willst du dann machen? Was bist du dann noch?“, keifte ich.
„Vertrau mir einfach“, sagte er mit gebrochener Stimme. Und schwitzte.
Vertrauen sollte ich ihm. Einem Schatten von einem Chef.
„Das ist alles nicht wahr“, schrie ich. Ich sprintete los und prallte gegen die abgeschlossene Tür.
„Gib mir den Schlüssel!“ brüllte ich.

Maternus Millett

Website

Maternus Millett wurde 1970 in Darmstadt geboren. Studium der Stadtplanung, Tätigkeiten als Datentechniker, Wertpapierhändler und freier Redakteur. Teilnahme an der Literaturwerkstatt der Stadt Darmstadt unter der Leitung von Kurt Drawert und an einem Drehbuchseminar von Wolfgang Pfeiffer. Aufenthalte in Kuba, Argentinien und Kolumbien. Er lebt in Weimar und arbeitet seit 2003 im kulturell-kreativen Milieu als Projektentwickler.

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