Der Himmel und die Luft zum Atmen

frieserDer Himmel und die Luft zum Atmen
– Eine Jugend in den 40er Jahren
Stefan Frieser  FS0222B
ISBN 9783865829603, Monsenstein und Vannerdat, Softcover, 284 Seiten, € 16,80

frieserAuf spannende, witzige, unterhaltsame und schockierende Weise erlebt der Leser hautnah die Dramen, Abenteuer und Träume eines deutschen Jugendlichen in den 30er und 40er Jahren. Wir tauchen ein in die Gefühlswelt des oberpfälzischen Arbeiterjungen Gottfried, der uns zuerst als Sohn, Hitlerjunge und Lehrbub und später als Soldat, Gefangener, Verliebter und Vater an seiner Geschichte teilhaben lässt. Ein unglaublich lebendiges Dokument aus unserer Geschichte, das eindrucksvoll die alltäglichen Erlebnisse des Jedermann im Europa vor, während und nach dem 2. Weltkrieg aufgreift. Erfrischend, erschreckend und rasant erzählt.

 

 

 

 

Aus Kapitel 10. Bretzenheim

»Such du dir ein Loch aus«, sage ich zu Kammerl. »Mir ist es gleich.«

Das eine Loch ist schön groß und rund wie ein Teller und genauso flach. Man kann alle viere von sich strecken, hat aber kaum Schutz vor dem Wind. Dieses Problem besteht in dem anderen Loch nicht. Im Stehen reicht es einem bis zum Knie und ist zu einem makellosen Rechteck ausgehoben, dafür ist kaum Platz, um die Beine anzuwinkeln, wenn man auf der Seite schläft. Außerdem ist es mir unheimlich.

»Ist es dir wirklich gleich, Gottfried?«

»Ja. Das eine ist ein Sarg, und das andere ist ein Witz.«

»Wirklich, wirklich?«

»Wenn ich es dir sage.«

»Weil …« Kammerl grinst und schüttelt den Kopf. »In einen Sarg will ich nicht.« Und noch lauter und lachend: »Nein, nein, in einen Sarg will ich wirklich nicht!«

In meiner ersten Nacht im Sarg wechsle ich zwischen krumm liegen und zusammengekauert sitzen. Schwer kann ich mich an den würzigen Erdgeruch gewöhnen. Er macht hungrig. Nachts schleudern die Scheinwerfer von den Wachtürmen ihre Lichtkegel über die Schlafenden. Ständig suchen sie irgendwo. Nach was nur? Über mir schlurfen Männer vorbei.

Das Tackern von Maschinengewehren schreckt mich aus dem Schlaf – drei, vier, fünf Mal in dieser Nacht. Träumende stoßen Schreie aus.

182

»Nein! Hilfe! Ich bin nicht tot! Hilfe!«, schreit Kammerl aus seiner Erdschüssel.

Bei Sonnenaufgang krieche ich aus dem Sarg. Mein erster Gedanke ist Durst. Mein zweiter gilt dem Schmerz in meinen Rippen, und jede Bewegung kostet Überwindung. Vorsichtig hebe ich mein Hemd. Die ganze rechte Seite ist ein einziger Bluterguss in blau und gelb, und keine Mutter ist da, die mich mit Franzbranntwein einreibt und ins Bett schickt. Ich setze mich auf die Kante und beobachte den schlafenden Kammerl. Wie er da liegt, den Kopf zur Seite gedreht und die Beine krampfhaft gegen den Erdboden gebohrt … Noch nie habe ich Kammerl so verkrampft gesehen. Unnatürlich sieht er aus und irgendwie verzweifelt. Dir haben sie auch alles genommen, denke ich so vor mich hin. Was haben wir Maxhütter Buben getan? Gegen  welches Gesetz haben wir verstoßen? Zwei Mal in der Woche sind wir zur Hitlerjugend gegangen, weil wir mussten, zum RAD hat man uns eingezogen, und den Krieg haben sich auch andere ausgedacht. Auf einmal gelten neue Gesetze, und wir werden für die Einhaltung der alten bestraft.

»Ach«, murmle ich und blicke nach oben. Ein paar zerrissene Wolken verlieren sich in einem dunkelblauen Himmel. Ich frage mich, wie weit man in den Himmel hineinschauen kann, und ob man irgendwann etwas anderes sehen würde, wenn man unendlich gute Augen hätte. Und ich glaube, es ist ihm egal, von wo aus man ihn betrachtet. Ob von der Heimat, von einem Schiff auf hoher See oder von hier, diesem Acker der Unterernährten, Unglücklichen, Todkranken und Verletzten. Er bleibt immer gleich, und vielleicht suchen die Menschen so eine feste Größe, eine Sicherheit, und darum haben sie Gott in den Himmel verpflanzt.

Ich atme tief ein und blicke nach oben. Das sind die Dinge, die mir geblieben sind: Der Himmel und die Luft zum Atmen.

frieserStefan Frieser

Website

Alle interessanten Infos über den Autor Stefan Frieser und seinen Roman "Der Himmel und die Luft zum Atmen" finden sie auf seiner Homepage

Von Stefan Frieser