Briefe eines unbekannten Soldaten

kuhlmannBriefe eines unbekannten Soldaten
– Roman
Achim Kuhlmann  KA0219B
ISBN 9783865829795, MV-Verlag, Taschenbuch, 247 Seiten, € 15,50

 

 

kohlmann

 

Paris 1940

Die deutsche Wehrmacht hat in nur wenigen Monaten Frankreich überrannt und besetzt. Die deutsche Wehrmacht hat in nur wenigen Monaten Frankreich überrannt und besetzt. Verbotenerweise öffnet der junge Soldat Heinrich Altmann einen Brief "An den unbekannten Soldaten", den Johanna aus Berlin geschrieben hat. Eine Brieffreundschaft entsteht. Heinrich fälscht Reisepapiere, um Johanna in Berlin besuchen zu können und erlebt dort eine unvergessliche Nacht. In bewegenden Feldpostbriefen schildern sie sich gegenseitig ihren Kriegsalltag, hier an der Front – dort in der Heimat. Heinrich hat nur einen Wunsch: Er möchte Johanna wiedersehen.

 

 

 

 

 

Pünktlich um halb neun stand sie vor der Haustür.

„Guten Morgen, du Langschläfer. Hast du gut geschlafen?“ In den Händen hielt sie nicht nur den Lenker ihres eigenen Fahrrades, sondern auch den eines zweiten, eines Herrenrades.

„Hier habe ich meine erste Überraschung. Wir machen heute eine Radtour an die Krumme Lanke. Ich hoffe du kannst schwimmen.“

„Wenn ich gewusst hätte, dass du schon da bist, wäre ich auch früher heraus gekommen. Wo hast du denn das Rad her?“

„Meine Nachbarin hat es mir geliehen. Ihr Mann ist auch an der Front. War gar nicht so einfach ihr weis zu machen, dass ich das Rad für einen Arbeitskollegen brauche. Na ja, sie glaubt es mir sowieso nicht. Noch viel schwerer war es, beide Räder hier herzubekommen.“
Auf dem Rücken trug sie einen Rucksack und auf den Gepäckträger hatte sie eine Decke geschnallt.

Das Wetter war Anfang Juni einfach herrlich. Die Fahrt ging über Steglitz und Dahlem nach Zehlendorf an die Krumme Lanke, einem Badesee, der bei den Berlinern zwar beliebt, aber nicht so überlaufen war wie zum Beispiel der Wannsee. Über eine Stunde waren sie unterwegs, doch die Fahrt war alles andere als langweilig, weil Johanna Heinrich immer wieder auf etwas Besonderes aufmerksam machte, was es am Rande zu sehen gab. Hin und wieder nahmen sie sich sogar an die Hände und achteten nicht weiter auf den Autoverkehr. An der Krummen Lanke suchten sie sich ein ruhiges Plätzchen. Johanna breitete ihre Decke aus und entledigte sich ihrer Schuhe und ihres Kleides, da sie darunter bereits ihren Badeanzug angezogen hatte.
„Mit so etwas kann ich nicht dienen. An der Front braucht man so selten eine Badehose, weißt du.“

Heinrich zog seine Stiefel, seine Jacke und sein Hemd aus, so dass er wenigstens mit freiem Oberkörper in der Sonne liegen konnte. Johanna lag neben ihm auf der Decke und Heinrich mochte den Blick gar nicht von ihr wenden. Sie hatte ihre Sonnenbrille aufgesetzt und genoss die Blicke von Heinrich, auch wenn der nicht ahnte, dass sie ihn ebenfalls beobachtete.

„Warum kann es nicht immer so schön sein? Warum müssen wir nur diesen blöden Krieg haben?“ Johanna richtete sich auf und zeigte Wut und Ärger.

„Der Führer weiß schon was richtig ist. Wir werden den Krieg gewinnen und dann kann das Leben beginnen“, versuchte Heinrich zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.

„Und was, wenn nicht? Ich will nicht, dass dich eine Kugel trifft. Ich will überhaupt nicht, dass jemand erschossen wird.“

„Wer will das schon? Aber was sein muss, muss eben sein.“

„In Berlin sind auch schon Bomben gefallen. Immer wieder hört man, dass ganze Häuserblocks getroffen wurden. Neukölln hat bislang noch nichts abbekommen, Gott sei Dank. Wie ist das im Krieg, Heinrich? Hast du schlimme Dinge gesehen?“

„Weißt du, man verdrängt das alles so schnell. Bei uns in Werther habe ich mal mit einem Künstler gesprochen. Der war im Weltkrieg 1917 und sagte, Krieg ist nicht schön. Er hat Recht gehabt. Man bekommt einen Befehl und den führt man aus.“

„Musstest du mit ansehen, wie Menschen starben?“

„Ach, Johanna, lass uns über etwas anderes sprechen.“

„Europa ist so groß. Ich glaube, dass wir Deutschen niemals ganz Europa erobern können.“

„Na, das lass aber mal nicht den Führer hören.“

„Das ist es ja, was mir so viel Angst macht. Man darf heutzutage nichts mehr laut sagen. Überall könnte jemand zuhören.“
Johanna setzte sich nun ganz auf.

„Glaubst du, dass man unsere Briefe abfangen und lesen könnte?“

„Möglich ist das schon“, erwiderte Heinrich.

„Dann sollten wir besser vorsichtig sein, was wir uns schreiben. Pass auf: Wenn es uns gut geht, dann schreiben wir „Es geht mir gut“. Wenn es uns schlecht geht, dann schreiben wir „Es geht mir sehr gut“. So kann der andere wenigstens einschätzen, wie die Lage ist.“

Heinrich schmunzelte über ihren Einfallsreichtum. Aber vielleicht war das gar nicht so schlecht.

Sie hatten eine Zeitlang in der Sonne gelegen und Johanna wollte baden gehen. Heinrich zierte sich, denn zu schwimmen ganz ohne Bekleidung am helllichten Tag kam für ihn unter keinen Umständen infrage. Vom nahen Strandbad aus hätte man herüber schauen können. So musste Johanna sich allein abkühlen. Heinrich krempelte sich seine Hosenbeine hoch und stapfte ein wenig im seichten Uferwasser herum, während Johanna wie ein Fisch umherschwamm und ihn mit Füßen und Händen nass spritzte.

„Komm doch auch ins Wasser. Deine Hose wird auch so wieder trocken!“
Natürlich dauerte es nicht lange und Heinrichs Hose war ebenfalls völlig nass. Nun war es ihm egal. Mit einem Hechtsprung stürzte er sich ins Wasser, um mit Johanna unterzutauchen. Er packte sie, hielt sie umschlungen und blickte ihr in die Augen. Wie gerne hätte er sie geküßt, doch sie tauchte mit ihm zusammen ein weiteres Mal unter, schüttelte ihre nassen Haare sobald sie wieder an der Oberfläche waren und prustete ihm Wassertropfen ins Gesicht.

„Komm, wir schwimmen um die Wette. Wer zuerst am anderen Ufer ist.“
An dieser Stelle war die krumme Lanke für ein Wettschwimmen gerade breit genug. Heinrich war schon einige Meter vor Johanna, als diese von hinten rief: „Natürlich mit Rückweg!“

Nun war es Johanna, die ihren Vorsprung nutzte und als erstes am Ufer zurück war. Lachend schüttelte sie ihre Haare aus und legte sich rücklings auf die Decke.
„Du Schummlerin.“

Triefend und prustend kletterte auch Heinrich aus dem Wasser. Seine nasse Hose klebte an seinen Beinen.

„Du hast gewonnen, mein Held. Komm, leg dich neben mich. Aber zieh doch deine Hose aus. Hier sieht es niemand und sie wird schneller trocken.“

Heinrich schaute zu dem kleinen Strandbad hinüber. Vorsichtig entledigte er sich seiner Hose und hängte sie über einen Ast. Die Unterhose ließ er besser an. Ganz wohl war ihm nicht dabei. Das Wasser war noch recht kalt gewesen und Johanna konnte nun deutlich die geschrumpften Konturen seines Unterbaus erkennen. Genau dies schien sie zu amüsieren, denn sie verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln, das Bände sprach. Schnell legte sich Heinrich bäuchlings neben sie. Johanna erzählte von ihren Freundinnen, von ihrer Arbeit als Putzmacherin und von ihrer Zeit als Arbeitsmaid. Heinrich erzählte von seiner Heimat am Osning. Sie fühlten beide etwas, das sie nur mit Glück hätten umschreiben können und vergaßen die Zeit.
Am Nachmittag beschlossen sie, einen Spaziergang um die Krumme Lanke zu machen. Auf der Hälfte der Strecke setzen sie sich auf eine Bank und genossen schweigend die Aussicht und das warme Sommerwetter. Mit geschlossenen Augen fing Johanna plötzlich an, ein Lied zu singen, das sich anhörte, wie das Lied eines Leierkastenmannes:

„Nachher saß ich mit der Emma uff der Banke,
über uns da sang so schmelzend ein Pirol.
Unter uns da lag so still die Krumme Lanke,
neben uns aß eener Wurscht mit Sauerkohl.
Gerade über zog sich eener an vom Baden,
und wir sah‘n ihn noch im Badeanzug jehn.
Da sprach Emma zu mir traut:
„Bis Du ooch so schön jebaut?“
Und dann gab se mir ‘nen Kuß, ach, war det scheen.“

Heinrich schaute sie verdutzt an.
„Was ist das?“
„Kennst du nicht das Lied von der Krummen Lanke?“
„Nee, nie gehört. Aber sing weiter.“
„Bis hierher ist es ja noch schön, aber leider endet das Lied genauso traurig wie der Film gestern. Richtig dramatisch.“
„Trotzdem, sing weiter.“

„Ach, der erste Kuß war scheen,
darum blieb‘s nich bei dem een‘,
denn een Kuß alleene hat ja nich viel Zweck.
Emma küßte mit Jefühl,
und die Nacht, die war so schwül,
und der letzte Zug war sowieso schon weg.
Aber um de Weihnachtszeit
klagt‘ sie leise mir ihr Leid;
weinend sprach sie: „Det Malheur, es is von dir.“
Darauf dacht ick: „Au verdammt!“
Und jing hin zum Standesamt
Und dann macht ick schleunigst Hochzeit ooch mit ihr.

Nachher saß ick in der Küche uff der Banke,
und die Windeln hingen rum so wunderschön,
und ‘ne Filiale von der Krummen Lanke
macht‘ der Kleene mir uffs linke Hosenbeen.
Nachts, da konnte keener von uns ruhig schlafen,
denn der Bengel brüllte bis zum Morgen fast;
und da riß uns die Jeduld,
eener jab dem andern Schuld:
„Hättste damals lieber nich den Zug verpaßt.“

Und nu saß ick wieder mit ihr uff ‘ner Banke,
und der Richter hat uns beede dann verhört.
Wütend dacht‘ ick: „Die verfluchte Krumme Lanke!“
Und dann wurde ick als schuld‘jer Teil erklärt.
Nu muß ick für Emma und det Jör bezahlen,
und ick komm mein Leben lang nich mehr zur Ruh.
Det soll mir ‘ne Warnung sein,
ick fall nich noch eenmal rein,
ick koof mir Sand und schipp die Krumme Lanke zu.“

Heinrich hörte ihr aufmerksam zu. Sie sang mit Berliner Akzent, den man sonst bei ihr kaum wahrnehmen konnte. Diesmal hatte Heinrich ihre Botschaft verstanden. Er nahm ihre Hände und schaute ihr ins Gesicht.
„Ich bin nicht so einer, Johanna. Ich werde nie etwas tun, was du nicht willst.“

Johanna lächelte, zog Heinrich an sich und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund.

„Komm, mein unbekannter Soldat. Es ist spät geworden. Lass uns gehen.“

Die Rückfahrt war nicht mehr ganz so unbeschwert, wie noch die Herfahrt gewesen war. Unterwegs machten sie in Schöneberg Rast und fanden ein Aschinger Restaurant, wo sie ein billiges und reichhaltiges Abendessen zu sich nehmen konnten. Es war bereits acht Uhr durch, als sie die Reichenberger Straße wieder erreichten. Johanna wies Heinrich an, einen Block vor ihrem Haus auf sie zu warten. Sie wollte die Räder allein zurückbringen und noch kurz nach der Mutter sehen. Sie hatte keine Lust auf das Getuschel der Nachbarn und auf die Nachfragen an ihre Mutter, wenn man sie mit einem Soldaten vor der Tür sehen würde. Heinrich hatte dafür Verständnis. Nach einer halben Stunde war sie wieder bei ihm hakte sich unter.

„Komm, lass uns noch ein Stück gehen.“

Sie schlenderten die Mariannenstraße herunter bis zum Kottbusser Ufer. Zum Hermannplatz ging es links, doch Johanna überquerte mit ihm den Kottbusser Damm und schlug den Weg Richtung Prinzenstraße ein. Heinrich merkte schnell, dass sie diesen Weg noch nie gegangen waren.

„Wo willst du hin? Wollen wir nicht noch zur Hasenheide? In Rixdorf ist Musike. Hast du das nicht gestern gesagt?“

„Mir ist heut nicht nach tanzen. Ich will dir meine zweite Überraschung noch zeigen.“

Sie kamen an den Urban-Hafen und bogen rechts in die Admiralstraße ein. Am zweiten Häuserblock blieben sie stehen und Johanna schaute Heinrich in die Augen.

„Hier oben wohnt meine Tante. Sie hat heute Nacht Dienst im Krankenhaus. Sie hat mir ihren Schlüssel gegeben. Wollen wir hoch gehen?“

Heinrich glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Sein Herz klopfte wie wild. Hatte sie hoch gehen gesagt? Er hielt ihre Hände und nickte.
Obwohl nur eine Treppe im Hinterhof, kam ihm der Weg endlos vor. Leise schlichen sie sich in die Wohnung, was mit seinen Stiefeln auf den Holzdielen gar nicht so einfach war, um nur nicht den Nachbarn Anlass zur Nachfrage zu geben. Draußen hatte es schon angefangen zu dämmern. Johanna kannte sich in der Wohnung aus. Sie nahm ein paar Kerzen aus dem Küchenschrank und stellte sie in eine Halterung. Sie hatte absichtlich kein elektrisches Licht gemacht, so blieb alles in romantischem Kerzenschein. Die Wohnung der Tante war schlicht aber sehr gemütlich eingerichtet. Ein Wohnzimmertisch auf einem Teppich, drei Sessel, Blumen am Fenster, eine tickende Uhr auf einer Anrichte und an der Wand das Bild eines röhrenden Hirsches im Wald. In der einen Hand trug Johanna den Leuchter, mit der anderen nahm sie Heinrich bei der Hand und zog ihn in das Schlafzimmer der Tante. Sie stellte den Leuchter auf den Nachttisch und ging zurück zu ihm. Auch das Schlafzimmer hatte etwas Einla dendes. Das Bett der Tante war ein Doppelbett, breit genug für zwei Personen. Sie standen sich gegenüber. Johanna hatte ihre Schuhe ausgezogen und stand nun barfuß auf den Zehenspitzen vor Heinrich, der in seinen klobigen Stiefeln unbeholfen wirkte. Sie hielten sich eng umschlungen. Beide atmeten tief durch, sodass sich ihre Gesichtszüge allmählich zu einem Lächeln entspannen konnten. Johanna zog Heinrich den Waffenrock aus und streifte seine Hosenträger ab.

„Jetzt dürfense Ihre Hosen aber ruhig janz runterlassen, Herr Jeneral. Hier sind wir janz unter uns, hier schaut sonst keener zu.“
Johanna betonte den Berliner Akzent ganz bewusst. Sanft zog sie ihn an sich heran und küsste ihn inniglich. Er war überwältigt. Noch nie hatte er so einen Kuss bekommen oder jemanden gegeben. Er zog ihr vorsichtig das Kleid über den Kopf und küsste sie wieder. Nach kurzer Zeit, die den beiden wie eine Ewigkeit vorkam, fanden sie sich völlig unbekleidet im Bett der Tante wieder. Heinrich hatte sich neben Johanna gelegt und streichelte ihr zärtlich eine Haarlocke aus dem Gesicht. Für einen Moment schien es ihm, als wenn ihr Lächeln im Schein der Kerze plötzlich etwas Ängstliches, etwas Unsicheres bekommen hätte. Doch dann flüsterte sie: „Ich möchte, dass wir uns so lieben, als wäre es das letzte Mal!“

Johanna war früh auf den Beinen. Die Sonne war bereits aufgegangen, als sie mitten im Raum stand und sich ihr Kleid wieder überstreifte. Heinrich öffnete die Augen und erhaschte gerade noch einen Blick auf ihren schmalen Rücken.

„Wie spät ist es?“ wollte er, noch ganz verschlafen, wissen.
„Halb sechs. Es wird Zeit. Um halb sieben kommt meine Tante zurück. Eigentlich möchte ich schon gerne, dass du sie kennenlernst, aber vielleicht ist das alles noch ein bisschen zu früh.“

„Um viertel nach acht geht mein Zug nach Dresden.“
Heinrich reckte sich und fand damit in den rauen Teil der Wirklichkeit zurück.

„Denkst du, wir können noch etwas frühstücken?“

„Am U-Bahnhof Kottbusser Tor gibt es Kaffee und Schrippen zu bekommen.“

Johanna wartete, bis auch Heinrich sich angekleidet hatte, nahm ihn in die Arme und gab ihm einen Kuss.
„Ich wünsche mir so sehr, dass du wiederkommst. Versprichst du das? Versprich es mir, Heinrich!“

„Ich würde es dir so gern versprechen, Johanna. Ich weiß nicht, was die Zukunft für uns bereit hält. Aber ich verspreche dir, dass ich alles daran setzen werden, damit ich zurückkomme.“

Johanna standen die Tränen in den Augen. Endlich holte die Zeit sie ein und gemeinsam machten sie sich daran, das Schlafzimmer wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Genauso leise, wie sie gekommen waren, versuchten sie auch wieder aus dem Haus zu schleichen. Am Kottbusser Tor konnten sie ein kleines Frühstück erstehen. Alle fünfzehn Minuten donnerte eine U-Bahn über sie hinweg. Um halb acht saßen sie in einer Bahn, die sie zum Anhalter Bahnhof bringen sollte. Johanna hatte an diesem Freitag noch frei und darauf bestanden, ihn zum Zug zu begleiten. Auf dem letzten Stück des Weges zum Bahnsteig sprachen sie kein Wort. Johanna wischte sich immer wieder Tränen aus dem Gesicht und auch Heinrich war nicht weit davon entfernt, seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Er überspielte allerdings seinen Abschiedsschmerz, indem er sie anlächelte und anwies, doch nicht so dumm zu sein und loszuheulen. Nun standen sie vor der Sperre zum Bahnsteig und umarmten sich.
„Ich komme nicht mehr mit auf den Bahnsteig. Sonst breche ich vor Tränen noch vollständig zusammen.“

Heinrich nickte und biss sich auf die Lippe.
„Ich weiß gar nicht, was ich dir zum Abschied sagen möchte. ‚Lebe wohl‘ hört sich so endgültig an. Bei ‚Tschüss‘ denke ich, ich bin ja gleich wieder da.“

„Wie wär’s mit: Auf Wiedersehen und ich liebe dich?“

„Ja. Wir werden uns wiedersehen. Ich liebe dich habe ich noch nie zu jemandem gesagt, aber es stimmt. Ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch, Heinrich.“

Heinrich wollte aus seiner Hosentasche seine Fahrscheine kramen und fühlte den kleinen Zinnsoldaten. Er holte ihn hervor und gab ihn Johanna.
„Hier, ich glaube, der reist nicht gern. Der hat schon einmal eine Reise verweigert. Pass auf ihn auf. Solange ihm nichts geschieht, geschieht auch mir nichts.“

Johanna nahm den Zinnsoldaten an sich und betrachtete ihn.
„Meine beiden unbekannten Soldaten. So hab ich wenigstens einen bei mir.“

Das Lesen des Buches ist trotz der düsteren Ereignisse ein atemberaubendes Erlebnis nicht nur für diejenigen, die die Orte des Geschehens kennen. Viele Schilderungen seines Vaters hat der Autor in seinen Roman mit einfließen lassen. Kuhlmann versetzt seinen Romanhelden in eine der schwierigsten Epochen der deutschen Geschichte, lässt ihn die Reichpogromnacht erleben, an verschiedenen Feldzügen Nazi-Deutschlands teilnehmen und bleibt dabei stets der respektvolle Beobachter.
Ein mitreißendes Buch, das den Leser bis zur letzten Seite gefangenhält. So manche Biographie unserer Eltern oder Großeltern wird nachvollziehbar. Vieles wäre vielleicht ganz anders verlaufen, wenn … ja wenn …
Neue Westfälische Zeitung

Achim Kuhlmann

Achim Kuhlmann ist Jahrgang 1958, Lehrer an einer Hauptschule und unterrichtet Deutsch, Geschichte und Geographie. Für sein Buch hat er sich lange mit den historischen Gegebenheiten und Orten befasst und dafür recherchiert. Er lebt und schreibt in Halle/Westfalen.

Von Achim Kuhlmann