Des Meisters Bartel verlorener Ring

spyraDes Meisters Bartel verlorener Ring
– Eine historische Familiengeschichte in einer fränkischen Kleinstadt
Thomas Spyra  ST0298B
ISBN 9783000289088, cristom-kunstverlag, Softcover, 304 Seiten, € 12,80


spyraDer Roman beginnt mit den Ausgrabungen auf dem Marktplatz von Bad Windsheim, einer kleinen ehemals Freien Reichsstadt in Franken, zwischen den Städten Nürnberg, Würzburg und Rothenburg gelegen.
Vor der Kulisse der heute noch vorhandenen mittelalterlichen Altstadt wird ein kurzer Blick in die Familie eines Schneidermeisters, aber auch in die politischen und menschlichen Zusammenhänge einer Kleinstadt, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewährt.

Meister Andreas Christoph Bartel kommt 1726 auf der Suche nach einer eigenen Werkstatt in die kleine Stadt.

Er findet in der fränkischen Städtchen sein Glück, und erlebt im Laufe der Jahre Not, Elend und Prunk des ausgehenden Hochbarock. Im Zeitalter des untergehenden Absolutismus schließt er sich den Gedanken der Aufklärung an.



Prolog

Samstagnachmittag schellte das Telefon schrill durchs Haus. Das gemütliche Kaffeetrinken im Wintergarten wurde dadurch jäh unterbrochen.

Archäologisch interessierte Bürger hatten, bei den am Freitag durchgeführten Probeschürfen, auf dem Marktplatz Mauerreste und Knochen gefunden, teilte mir der Anrufer mit.

Als Bau- und Projektleiter sollte ich den Marktplatz der Stadt Bad Windsheim neu gestalten. Dazu wollten wir an einigen Stellen die genaue Lage der Versorgungsleitung feststellen und hatten die Schürfgruben mit dem Bagger angelegt.
Und jetzt? Der Albtraum eines jeden Bauleiters. Archäologische Funde! Auf der einen Seite war es natürlich auch spannend. Was findet man da, was kommt dabei heraus?
Bei meiner anderen großen Baustelle, der Spitalkirche, hatte ich es im Moment auch schon mit archäologischen Ausgrabungen zu tun. Hier lernte ich auch die Mauerstrukturen aus dem Mittelalter kennen.

Auf dem Marktplatz angekommen, umringten bereits mehrere Dutzend Leute die Grabungslöcher. Auch die Presse war bereits vor Ort. Mit einem Blick sah ich, dass die Mauerreste in etwa die gleichen Strukturen wie die in der Spitalkirche aufwiesen und die Knochen menschliche Überreste waren. Die zum Vorschein gekommenen Mauern mussten gründlich untersucht werden.
Am darauffolgenden Montag bat ich den Mittelalterarchäologen Wolfgang Steeger, der bereits die Grabungen in der Spitalkirche leitete, sich die Funde auf dem Marktplatz einmal anzusehen. Wie es sich dann herausstellte, waren dies tatsächlich Überreste aus dem frühen Mittelalter.
Anschließend folgte mit mehreren Archäologen und vielen freiwilligen Helfern eine halbjährige Grabungskampagne. Im Laufe dieser Zeit wurden Mauerreste aus dem 11. bis 14. Jahrhundert und über 45 Skelette aus dem 9. bis 10. Jahrhundert freigelegt.

Die Sensation für so eine kleine Stadt war perfekt. Die Bevölkerung zeigte großes Interesse und belagerte die Baustelle von früh bis spät.

Mithilfe vieler Spenden von Bürgern, Vereinen, Firmen und Institutionen konnte dann das Archäologische Fenster zur Stadtgeschichte verwirklicht werden.
Im September 2001 wurde der neu gestaltete Marktplatz mit dem Archäologischen Fenster feierlich der Bevölkerung vorgestellt.

Bei der Einrichtung des kleinen Museums tauchten immer wieder Fragen zu einzelnen Fundstücken auf:
Wie kam der Siegelring aus Messing an den Brunnenrand auf dem Marktplatz?
Wer verbirgt sich hinter den Buchstaben ACB?

Anno 1724
Lauf, Reifen, lauf
»Lauf, Reifen, lauf«, laut schreiend rannte Kunigunde Magdalena Bäumer, von allen nur kurz Lena genannt, hinter ihrem Bruder Albrecht her. Der schlug den Reifen, einen alten Eisenring vom großen Handwagen und tobte daneben her. Lena klatschte in die Hände und feuerte ihren Bruder mit rot glühenden Wangen an.
Das war ein lustiges Spiel, aber es war ein Bubenspiel. Mädchen sprangen nicht so mit fliegenden Röcken umher, Mädchen übten sich daheim im Haushalt oder gingen sittsam in ihrer Gasse spazieren.

Aber die Bäumer-Kinder waren schon immer etwas anders. Beide zierlich, schlank und rotblond wie ihre Mutter, waren etwas Besonderes!
So trug Lena zu ihrer rostfarbenen Kittelschürze aus grobem Leinenstoff knallrote Schuhe aus weichem Ziegenleder. Die hatte ihr der Vater nach langem Betteln und Bitten selbst genäht. Das war schon etwas Außergewöhnliches, die rote Farbe. Und Schuhe besaßen eigentlich nur die Kinder der reichen Patrizier.
Ihr Vater, der Zeugmacher- und Schneidermeister Johann Georg Bäumer, war daneben auch für die Ausstattung der Stadtwache und der Bürgerwehr in der Stadt Windsheim zuständig.
Zu der Zeit gab es in der Stadt viele Handwerker die sich mit der Herstellung von Tuch beschäftigten. Die Meisten waren indes Wollweber, Tuchmacher oder Leineweber, und verarbeiteten Baumwolle, gemischte Wolle, Leinen oder Seide.
Meister Johann Georg Bäumer hatte – wie sein Sohn Albrecht jetzt bei ihm – bereits als Kind bei seinem Vater, dem Zeugmacher Johann Adam Bäumer, viel mithelfen müssen und so allerhand über dessen Handwerk erfahren. Zeugmacher waren Weber und Tuchmacher die nur reine, gekämmte Schafwolle verarbeiteten. Später ergab sich für ihn die Möglichkeit, beim Vater seines Freundes Merklein in die Lehre zu gehen. Bei ihm lernte er das Schneiderhandwerk von Grund auf. Und nun hatte er sich zusätzlich darauf spezialisiert Uniformen anzufertigen.

Die Bäumers wohnten schon in der dritten Generation in der Stadt. Der in Nürnberg geborene Großvater blieb nach seiner Wanderzeit in der kleinen Reichsstadt Windsheim. Es gefiel ihm sehr gut hier und er richtete sich eine Werkstatt als Zeugmacher gleich hinter der Stadtmauer beim Seetor ein.

Die kleine, über 400 Jahre alte freie Reichsstadt Windsheim lag im weiten fruchtbaren Aischgrund, eingebettet zwischen dem Steigerwald im Norden und der Frankenhöhe im Süden. Fast gleich weit entfernt von Rothenburg, Würzburg und Nürnberg im Frankenland gelegen, stand sie immer im Schatten aber auch unter dem Schutz der großen Stadt Nürnberg. Hier kreuzten sich einige Handelswege und so erhoffte sich Bäumer, dass seine neue Werkstatt genug für ihn einbrachte.

Lenas Vater, ein großer, etwas beleibter, glatzköpfiger Mann, hatte ihr eine kleine Puppe aus Leder genäht. Diese zeigte sie allen voller Stolz, ließ aber kein anderes Mädchen damit spielen. Die Kinder beneideten sie sehr und hänselten sie. Ihre Puppe war fast schwarz, gerade so wie die Mohrenkinder auf dem Bild, welches ihnen der Pfarrer in der Sonntagsschule gezeigt hatte.

Jeden Sonntag nach der Sonntagsschule trafen sich, wenn das Wetter es zuließ, die Jungen zum Reifen schlagen auf dem Markt. Und dann ging es um die Wette hinunter zum Wirtshaus Zur Sonne am Kornmarkt oder zum Brunnen am Weinmarkt. Zum Wirtshaus war die Straße glatter und es lagen weniger Steine da herum. Hier sprang der Reifen nicht so weit weg, wenn er auf einen Stein traf. Dabei tat sich Albrecht immer hervor, obwohl er noch nicht zu den großen Knaben zählte.

Er war erst in der dritten Klasse und hatte noch drei ganze Schuljahre vor sich. Für was waren das Lesen, das Schreiben und das Rechnen schon gut? Er konnte gut reden und das Geld zählen konnte er auch. Außerdem wollte er einmal mit seinem Freund Johann Michael auf der Baustelle dessen Vaters arbeiten, da muss man nicht so studiert wie ein Stadtschreiber sein, dachte er sich.

Albrecht flitzte dem Reifen hinterher, er sauste so schnell er konnte, sah weder nach rechts noch nach links. Die dralle ältere Schankmagd Anna trat gerade mit drei Krügen aus dem Wirtshaus und schritt zu den drei Freunden, die an dem Tisch neben dem Brunnen auf dem Kornmarkt saßen und auf ihr Bier warteten.

Die Drei hatten sich auf ihrer Walz im Sommer 1714 zufällig in Bozen im Wirtshaus getroffen. Bäumer und Merklein stammten aus Windsheim und der Krauß aus Steben, einer kleinen Stadt nördlich im Coburger Land.
Seit sie dann hier in Windsheim sesshaft geworden waren und nun auch jeder eine eigene Werkstatt hatte, trafen sie sich jeden Sonntag früh nach der Kirche zum Stammtisch, meist im Wirtshaus oder im Sommer auch draußen am alten Brunnen. Der bestand aus einem grob gefassten Schacht und war mit einem Schwingbaum als einfacher Ziehbrunnen konstruiert.

Johann Nikolaus Krauß war ein großer, schwarzhaariger, sonnengebräunter Mann. Man konnte ihn glatt für einen Südländer halten. Eine etwas derbe Erscheinung, aber gutmütig. Er kannte fast alles und jeden in der kleinen Stadt.

Seit fast 15 Jahren arbeitete er nun als Stadtmaurermeister in Windsheim. Damals in Bozen war er auf dem Weg nach Florenz. Dort in Südtirol hatte er schon fast zwei Jahre verbracht und vor allem den Umgang mit dem Granit aus den umliegenden Bergen erlernt.
Bozen war eine alte Handelsstadt an der Grenze zwischen dem Deutschen und Italienischen. Große mächtige Häuser standen hier auf dem Markt, ganz anders als in den kleinen Städten Frankens. Sein Meister gab ihm noch ein Empfehlungsschreiben für eine Werkstatt in Florenz mit. Er wollte dort noch einiges über den italienischen Barock lernen, vor allem aber auch über den Umgang mit dem herrlichen weißen Marmor.

Der andere Mann war der Schneidermeister Franz Jakob Merklein, damals auf dem Weg nach Mailand. Ein eleganter Herr, nicht mehr so ganz jung mit schütterem Haar und immer gepflegt mit einer Perücke nach der neuesten Mode, wie die großen Herren.
Die Stadt Mailand war früher und ist auch heute noch, die Modestadt. Für einen Schneidergesellen war dies sicher die Krönung seiner Wanderjahre. Er wollte damals bald nach Hause zurück. Seit über zwölf Jahren war er nun schon unterwegs. Davon drei Jahre im Welschenland und trotzdem hatte er immer noch Probleme mit der italienischen Sprache.

Der Dritte im Bunde, Schneidermeister Johann Georg Bäumer, war zu jener Zeit bereits wieder auf dem Heimweg. Er hatte ein Jahr in Verona, beim dortigen Padrone dell‘ arma, dem Waffenmeister und Uniformschneider der Stadtwache von Verona, seinem Handwerk den letzten Schliff gegeben.

Seit sie sich in der Fremde getroffen hatten, waren die drei besonders gute Freunde geworden.

»Halt, halt«, schrie Lena immer noch. Aber zu spät. Albrecht rannte und rannte – und rannte Anna fast um. Der eine Krug Bier flog durch die Luft und zerschellte vor den Füßen seines Vaters. Die anderen Krüge konnte die Schankmagd gerade noch festhalten, aber das Bier ergoss sich über die anwesenden Meister. Alle drei schimpften wie die Rohrspatzen und wischten sich das Bier aus dem Gesicht und von den Kleidern.
Bis Albrecht sich aufrappeln konnte, hatte ihn sein Vater schon am Kragen gepackt und schlug ihm mit dem Reifenschlagstock auf den stramm gezogenen Hosenboden. Der Junge biss die Zähne zusammen, jetzt nur nicht schreien, nur nicht heulen. Die herumtollende Kinderschar würde sich köstlich amüsieren und er wäre ein für alle Mal bei Allen, und besonders bei den Buben, unten durch. Lena schrie und klammerte sich am Bein des Vaters fest.
»Aufhören, aufhören«, bettelte Lena. Der Vater schüttelte sie ab. Sie hatte Angst um ihren Bruder. Vater konnte sehr kräftig zuschlagen, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
»Lass es gut sein, das reicht, Meister Bäumer«, rief Meister Krauß.
Bäumer zog seinen Sohn an den Tisch der Männer.
»Entschuldige dich sofort. Du wirst das verschüttete Bier natürlich bei jedem von uns abarbeiten. Beim Braumeister Joseph Seeg fängst du für den kaputten Krug gleich an«, schrie er Albrecht an.

Der Braumeister und Wirt, ein großer rundlicher Mann, von allen Kindern heimlich nur das Fass genannt, trat aus seiner Wirtsstube, als er das Geschrei hörte. Er schüttelte den Kopf. Schade um das Bier, dachte er bei sich.

»Aber Mutter wird gleich zum Essen rufen«, murrte Albrecht noch.
»Heute gibt es für dich nichts mehr. Ab Marsch! Ins Wirtshaus mit dir!« Bäumer ließ keine Widerrede zu.
»Seid doch nicht so streng, wir waren doch alle einmal jung und kennen so was, zum Glück können wir es uns doch leisten noch ein zweites Bier zu bestellen«, meinte sein Freund Krauß.
»Man muss den jungen Pferden schon zeigen, wo´s lang geht. Notfalls auch mit der Peitsche«, setzte Franz Jakob Merklein, der seit einigen Jahren Zunft-und Bürgermeister war, hinzu.
»Ich hab´s bestimmt und dabei bleibt es auch! Albrecht kommt für einen Tag nach der Schule zu euch und wird jede ihm zugewiesene Arbeit ausführen. Ich denke das reicht für den angerichteten Schaden«, schloss Bäumer die Diskussion.
Der Sonnenwirt brachte selbst die neuen Bierkrüge, setzte sich zu ihnen, und alle nahmen zufrieden einen tiefen Schluck von dem kühlen, dunklen Bier.
»Morgen zu Himmelfahrt, nach der Kirche, muss ich nach Rothenburg. Der Stadtrat hat mir den Auftrag erteilt genauso neumodische Uniformen für die Stadtwache anzufertigen, wie sie jetzt auch bei den Wachen in Nürnberg, Rothenburg und Dinkelsbühl üblich sein sollen. Aus dünnerem Stoff, nicht so dick wie unsere Uniformen, damit unsere Soldaten nicht mehr so schwitzen. Dass ich nicht lache, die Kerle sollen weniger Bier trinken, dann wird´s ihnen auch nicht so schnell warm«, setzte der Zeugmachermeister die Unterhaltung fort.
Von allen Türmen riefen die Glocken zu Mittag, Zeit für ein ordentliches Mahl. Die Freunde bezahlten, verabschiedeten sich, und schlenderten nach Hause.

»Bum, bum, bumdabum, bum bum ….«, hörten sie die Trommel rufen.
Der Knecht vom Wagnermeister kam ihnen ganz aufgeregt entgegengelaufen und brüllte: »Schnell schickt die Buben nach Hause, die Werber kommen.«
Die Männer rannten eilig nach Hause und nahmen ihre Kinder mit. Merklein, der einige Häuser weiter wohnte als die Bäumers, schimpfte noch:
»Seit wir dem Kaiser Soldaten geben müssen, nimmt das überhand, ständig ziehen die Werber vorbei und unser feiner Herr Oberrichter, der von Keget, lässt die auch noch rein, wahrscheinlich bekommt er für jeden Soldaten, den die Stadt stellt, ein Handgeld.«
»Beruhige dich, daran kannst du doch nichts ändern«, meinte Johann Georg zu ihm. Aber sein Freund hatte ja recht, dachte er bei sich.
»Warum kann man da nichts ändern?«, fragte ihn sein Sohn.
»Seit der Verabschiedung der Reichskriegsverfassung 1681 legen sich alle Herren, auch die mit den kleinsten Gebieten, eine stehende Armee zu. Das heißt, es gibt nun immer Soldaten, auch im Frieden. Selbst die Bürgermiliz in unserer Stadt Windsheim hat sich zwei Fahnenhaufen, einen Roten und einen Blauen, zu je zwei Hauptmannschaften, zugelegt. Du weißt ja auch, dass wir zwei Fähnriche, 10 Korporale und einen Stadtmajor haben. Im Rathaus gibt es sogar eine extra Kriegsstube, in der auch der Muster-Schreiber Quartier hat. Hier wird dann festgelegt, wie sich die Einwohner im Kriegsfall zu verhalten haben, und zu welchem Haufen sie gehören. Wir gehören zur blauen Fahne.«
»Muss da jeder hin?«
»Bei Krieg ja, aber im Frieden lässt du dich besser nicht mit dem Muster-Schreiber oder einem der Offiziere ein, sonst haben sie dich gleich am Schlafittchen. Wenn fremde Werbeoffiziere kommen, und wenn sie noch so schön trommeln, rennst du so schnell wie möglich ins Haus und lässt dich nicht mehr sehen, bis sie weg sind. Hast du einmal das Handgeld genommen, kann dir keiner mehr helfen. Dann musst du in den Krieg, oder irgendwo für einen fremden Herrn dienen und deinen Kopf hinhalten.«
Schnell schlossen sie hinter sich das große Hoftor.

Am nächsten Morgen richtete Johann Georg schon vor dem Kirchgang den Wagen her. Der neue Wagen war sein ganzer Stolz. Da hatte sich doch der Wagnermeister Strampfer schon etwas Besonderes einfallen lassen. Die Seitenwände waren aus Weiden geflochten. An sechs Stangen, die seitlich in Ösen gesteckt werden konnten, ließ sich eine Plane gegen den Regen darüber spannen. Freilich taugte dies nicht zum Mistfahren oder für andere grobe Arbeit. Aber er konnte es sich leisten einen zweiten Wagen, in dem man zusätzliche Bretter zum Sitzen einschieben konnte, anzuschaffen. Und heute sollte es zum ersten Mal weiter weggehen. Eine Tagesreise von Windsheim bis nach Rothenburg und zurück. Es wird bestimmt spät werden, dachte er. Ich muss noch mit der Wache am Rothenburger Tor reden, damit diese später noch aufmacht. Das wird ein Festausflug.
Die ganze Familie freute sich schon darauf.

Nach der Kirche, die wieder einmal viel zu lange gedauert hatte, ging er in den Stall um seine zwei prächtigen Pferde herauszuführen. Warum war der Braune heute nur so unruhig und zog das rechte hintere Bein nach. Bestimmt hatte er sich wieder etwas eingetreten, was sehr oft vorkam bei den verschmutzten Wegen. Er zog das Bein hoch und sah, dass sich sein brauner Hengst einen Dorn eingetreten hatte. Beim Versuch diesen Dorn heraus zu ziehen zuckte das Pferd vor Schmerz zusammen und schlug nach hinten aus. Der scharfe Huf traf seine Hand, ein wahnsinniger Schmerz durchzuckte ihn. War seine Hand zerschmettert? Nun drückte das Pferd mit seinem Hinterteil auch seinen rechten Arm über die Deichsel. Er brüllte auf und das Pferd machte einen jähen Satz nach vorne.
»Au, auaaa! Hilfe! Hilf mir Maria, Anna Maria«, stöhnte er laut und krümmte und wand sich am Boden.
Seine Frau, die hinten am Wagen gerade die Decken für die Fahrt herrichtete, kam entsetzt angelaufen als sie die Schreie hörte.
»Was ist dir? Oh mein Gott. Schnell, lauf zum Bader«, rief sie nach hinten ihrem Sohn zu.
Eilig zog sie ihre Schürze aus, riss sie in Streifen und verband ihren Mann notdürftig. Die Hand hing nur noch wie eine blutige Masse am Arm. Hand und Arm waren mehrfach gebrochen. Der herbeigeeilte Bader flickte ihn so gut es ging zusammen.
Es war unerträglich, nach einigen großen Gläsern Obstler stöhnte er nur noch und merkte nicht mehr, wie sie ihn ins Haus trugen.

Anno 1725
Vor dem Stadttor
Es war schon eine traurige Gesellschaft, die da zum Rothenburger Tor hinauszog. Vorne weg ein Hund, schmutzig und zottelig, schon lange nicht mehr gestreichelt. Zwei Buben zogen eine einfache Holzkarre. Gleich dahinter drei schwarz verhüllte Gestalten, der Größe nach könnten es eine Frau und zwei Kinder sein. Eine Handvoll Frauen, alle in ihre Kopftücher gehüllt, schlossen sich dahinter an. Sie geleiteten den in einer schwarzen, grob zusammengezimmerten Holzkiste liegenden und vor drei Tagen verstorbenen Schneidermeister Johann Georg Bäumer weit vor das Stadttor hinaus hinter den neuen Friedhof.
Hier mussten sie schon drei ihrer Kinder, alle tot geboren und ungetauft, verscharren. Zwei Weitere waren im Alter von ein und zwei Jahren und schon getauft, vorne im Familiengrab der Bäumers begraben worden.

Ob der Meister mit Absicht oder aus Versehen vom Rattengift getrunken hatte, wurde nie offenbar. Jedenfalls galt er als Selbstmörder und diese Menschen durften nicht mit den ehrbaren Toten auf dem Friedhof bestattet werden. Der Gehilfe des Totengräbers hatte schon eine Grube ausgehoben und schnell wurde der einfache Holzsarg hinabgelassen und polternd mit Erde zugefüllt. Keine tröstenden Worte, keine Lieder, nur das stille Gebet der Witwe mit ihren zwei Kindern, einem Bub und einem Mädchen. Schon musste die Trauergesellschaft wieder den Rückweg antreten. Der Rat der freien Reichsstadt Windsheim, und besonders der Pfarrherr, bestimmten dies so.
Zuhause angekommen setzte sich Frau Anna Maria mit ihren Kindern Lena und Albrecht an den großen Tisch in der Werkstatt, um zu besprechen, wie es weiter gehen sollte.

Thomas Spyra

Website

Jahrgang 1948, lebt und arbeitet seit 20 Jahren in Bad Windsheim.
Als Bau- und Projektleiter der Kommune kommt er mit der Geschichte
der Stadt Bad Windsheim buchstäblich auf Schritt und Tritt in Berührung.
Historische Spuren, die über 1000 Jahre in die Vergangenheit
reichen, müssen bedacht in die Stadtentwicklung einfließen.
Mit seinem ersten Roman verbindet Thomas Spyra berufliche Aufgaben
und private Interessen. Es lag nahe, die über Jahre gesammelten,
reichhaltigen, historischen Informationen in der autonomen literarischen
Form des Romans zu bündeln. Sie ermöglicht es einerseits
historische Zusammenhänge methodisch genau aufzuzeigen und andererseits
die fehlenden Details frei auszuschmücken, um lebendige
Geschichte zu zeichnen.

Von Thomas Spyra