NEMO

NemoNEMO
– Teil 1 und Teil 2
Bernhard Müllner  MB0243B
ISBN 9783850220064, Novum-Verlag, Paperback, 206 Seiten, € 16,90

 

NemoDie 18-jährige Annemaria Scholz lebt zusammen mit ihren Eltern, ihrer Großmutter Oma Justa und der Großtante Emilia in Hessford. Eines frostigen Winterabends geschieht etwas Unvorstellbares: Der Postbote Tom wird grausam ermordet aufgefunden. Außerdem sieht sich die Familie aus Geldnot gezwungen, einen Untermieter ins Haus zu nehmen. Nun fängt das Abenteuer erst richtig an. Schon bald bemerkt die kluge Annemarie, dass der Untermieter Herr Guntram einiges zu verbergen hat. Sie beginnt, ihn zu beobachten. Eines Tages wird sie Zeugin, wie er sich im Keller an der mit einem Totenkopf gekennzeichneten Tür zu schaffen macht, obwohl der Zutritt in diesen Raum allen strengstens untersagt ist. Herr Guntram scheitert an dem Versuch, in das Zimmer hineinzukommen, und wird wie von Geisterhand unsanft an die Wand geschleudert, wo er benommen liegen bleibt. Nun ist Annemaries Neugierde erwacht. Auf unerklärliche Weise gelingt es ihr, ins Innere des Raums vorzudringen, und was sie hier vorfindet, bringt ihr Weltbild ins Wanken …

 

 

Annemarie erwachte in einem dunklen, nur schwach beleuchteten Zimmer. Sie zitterte am ganzen Körper und ihr Kopf brummte. Sie sah sich ihre Hände an. Alle beide waren noch dran. Genauso wie ihre Füße, der Kopf – überhaupt der ganze Körper. Hatte sie nur geträumt?

Als das Mädchen aufstand, um ihre Umgebung genauer zu erkunden, sah sie auf ihrer rechten Hand Brandwunden. Sie waren leuchtend rot, mit kleinen Bläschen. Es konnte kein Traum gewesen sein. Wovon hätte sie sonst diese schreckliche Verletzung? Um keinen darauf aufmerksam zu machen, zog sie ihre Hemdärmel noch mehr über die Hand und versuchte, es so unauffällig wie möglich aussehen zu lassen. Nun musste sie nur schnell den Ausgang aus diesem Raum finden.

Als sie sich genauer umschaute, konnte sie feststellen, dass er mit alten Möbeln, Bildern, Truhen, kaputten Türen, Fenstern und Fernsehern angeräumt war. Erstaunlich. Langsam begann Annemarie, sich für diesen Raum zu interessieren. Sie ging zu der alten Truhe, die neben dem Bild mit einem großen Edelstein stand. Die Kiste war alt und morsch. Ein kleines Schloss hing an ihr, der Schlüssel war gleich daneben. Anne wunderte sich. Warum lag bloß der Schlüssel einer versperrten Truhe direkt daneben? Doch bevor sie sich noch den Kopf weiter darüber zerbrach, schloss sie die alte Kiste auf. Kaum hatte sie das Schloss geöffnet, krabbelte Ungeziefer – kleine, schwarze Käfer – aus der Truhe. Sie krochen auf den Boden, um Anne herum, zu den kaputten Türen, an dem Edelstein-Bild vorbei und die Wand hinauf. Wäre das Mädchen nicht so neugierig gewesen, zu sehen, was in dieser Kiste war, hätte sie laut losgeschrieen und das Ungeziefer reihenweise zertrampelt.

Annemarie beugte sich unruhig über die Truhe. Sie war leer. Es war rein gar nichts drinnen. Um sich zu vergewissern, dass sie wirklich nichts übersehen hatte, fuhr Annemarie mit ihrer Hand über den Boden. Als sie mit ihren Fingern darüberglitt, hörte sie jemanden fluchen. Zuerst glaubte das Mädchen, dass es sich verhört hatte, doch kurz darauf ertönte ein noch lauterer Schrei. Es war eindeutig eine Männerstimme. Annemarie war verwirrt. Seit wann konnte eine Truhe denn schreien? Sie taste den Boden der Kiste ab und bemerkte, dass er hohl war. Es musste ein doppelter Boden sein.

Wieder der Schrei. Langsam wurde er so laut, dass das Mädchen danach einige Sekunden lang nicht mehr richtig hören konnte. Die Stimme war schrill und eisig. Annemarie versuchte mit allen möglichen Mitteln, den Boden aufzubrechen, aber es gelang ihr nicht. Je mehr sie sich plagte, desto öfter und lauter ertönte der Schrei. Nach mehrmaligen Versuchen wollte Anne den Boden mit roher Gewalt öffnen. Sie sah sich nach einem harten Gegenstand um. Doch es war keiner zu sehen. Oder doch?

Der schwache Lichtstrahl, der vom Fenster ausging, leuchtete auf eine kleinere Schachtel. Sie sah aus wie ein kleiner Werkzeugkoffer. Anne stand auf und ging darauf zu. Als sie genauer hinsah, erkannte sie darauf merkwürdige Zeichen. Sie waren golden und verschlungen. Es stand in großen Buchstaben

Nemo

darauf. Langsam öffnete Annemarie sie. In der Schachtel war ein kleiner, hellblauer Stoffsack. Vorsichtig nahm das Mädchen ihn und öffnete ihn. Schon als sie ihn aufmachte, strömte ihr ein merkwürdiger Duft von Vanille und Lavendel entgegen. Aufmerksam sah Anne in den Sack. Es waren kleine, verrunzelte Blätter darin. Das Mädchen streute sich einige auf die Hand und bemerkte, dass sich an der Stelle, wo sie die Blätter hingetan hatte, eine wohlige Wärme ausbreitete. Sollte dies den Boden der Kiste öffnen?

Annemarie wollte es versuchen. Sie streute die streng riechenden Blätter auf den Truhenboden. Ein paar Sekunden lang geschah rein gar nichts, doch dann begann der Haufen zu brennen. Die Flammen breiteten sich über die ganze Truhe aus. Alles war voller Qualm und Asche. Anne wich erschrocken zurück und versuchte, so wenig Rauch wie nur möglich einzuatmen. Nach einigen Minuten des Wartens legte sich der Brand wieder.

Zögernd betrachtete das Mädchen die Truhe. Sie war heil geblieben. Einzig und allein der Boden war nicht mehr zu sehen. Der Rauch durchzog noch ein wenig die Kiste. Er umgab einen Gegenstand, den Annemarie zuerst nicht erkennen konnte. Doch als sich der Qualm allmählich verzog, sah sie ein großes, dickes Buch. Vorsichtig griff Anne danach und hob es heraus. Sie wusste nicht warum, aber irgendetwas ließ das Buch majestätisch wirken. Mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit legte Anne es in ihren Schoß. Das Buch hatte einen dunkelblauen Einband. Darauf war mit verschlungenen Buchstaben Nemo geschrieben. Sie waren golden und, wie Annemarie vermutete, extra aufgeklebt. Als sie das Buch aufschlug, kam ihr goldener Staub entgegen. Er kitzelte etwas in der Nase, erzeugte jedoch ein warmes und angenehmes Gefühl.

Von Abigail, Ambrosia und Asa, stand auf der ersten Seite des Buches geschrieben. Darunter waren drei verschieden bemalte Kugeln abgebildet. Eine war rot, die andere blau und die dritte grün. Anne strich vorsichtig darüber und bemerkte, dass die Kugeln ein klein wenig erhaben waren. Am Ende der Seite stand noch ein kleiner Satz: Lies diese Seiten gründlich, denn hier wirst du unser Schicksal erfahren.

Nun war Annemaries Neugier geweckt. Hastig blätterte sie um. Doch zu ihrem großen Erstaunen befand sich auf den nächsten dreihundertsechsunddreißig Seiten kein einziger Buchstabe. Fieberhaft dachte sie nach, wie sie denn die Zeichen und Schriften wieder in dieses Buch bekommen könnte. Würden ihr abermals die alten Blätter dabei helfen? Schnell holte sie den alten Ledersack herbei. Sie streute sich einen kleinen Teil des Inhaltes auf die Hand und warf ihn auf die aufgeschlagene Buchseite. Es geschah nichts. Anne wartete einige Minuten – aber vergebens. Verzweifelt wischte sie die Blätter weg, zurück in den Ledersack.

Als sie sich wieder dem Buch zuwandte, bemerkte sie, dass dort, wo ihre Hand die Seite berührt hatte, Buchstaben erschienen. Etwas zögernd legte sie die ganze Handfläche auf die Buchseite und in einem langsamen Schlängeln kamen all die kleinen, verschlungenen Wörter zum Vorschein. Doch nicht nur auf der ersten Seite bewirkte Annemaries Hand Wunder, sogar auf den anderen Buchseiten waren jetzt Wörter und gleich darauf ganze Sätze zu erkennen.

Das Mädchen wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie wusste zwar nicht, warum sie schwitzte, ihre Handfläche jedoch war rot und schmerzte. Anne atmete auf. Endlich konnte sie die Geschichte von Abigail, Ambrosia und Asa lesen.

Bernhard Müllner


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Bernhard Müllner wurde 1989 in Wien geboren und lebt mit seiner Familie in Österreich. Unter seine Hobbys fallen Schauspielen, Lesen und Kinobesuche. Seine Lieblingsautoren sind Joachim Friedrich, Enid Blyton und Michael Ende.

Von Bernhard Müller